Chile vor der Stichwahl: „Es geht um den Schutz der Demokratie“

Interview

In der Stichwahl um die Präsidentschaft entscheidet Chile am 19. Dezember zwischen dem rechtsextremen José Antonio Kast und dem linksprogressiven Gabriel Boric. Nichtwähler:innen und Antipolitiker:innen könnten bei dieser Richtungswahl den Ausschlag geben. Ein Interview mit Gitte Cullmann, Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Santiago de Chile.

Eine Frau wirft Wahlumschläge in eine Kiste
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Seit der Abschaffung der Wahlpflicht ist die Wahlbeteiligung in Chile niedrig.

Caroline Kassin: Beim Verfassungsplebiszit haben vergangenes Jahr 78 Prozent der Wähler:innen für eine neue Verfassung gestimmt, in den Verfassungskonvent wurden vor allem linke, progressive Kandidat:innen gewählt. Jetzt hat mit José Antonio Kast ein Rechtsextremer die erste Runde der Wahlen gewonnen. Wie passt das zusammen?

Gitte Cullmann: Der Verfassungskonvent arbeitet seit sechs Monaten daran, die Forderungen der Proteste, wie die nach einem gerechteren Bildungs- und Rentensystem, in eine neue Verfassung einzuarbeiten. Aber die Erfolge sind natürlich noch nicht sichtbar. Gleichzeitig fiel der Präsidentschaftswahlkampf in eine Zeit, in der die Pandemie bereits sehr deutliche Spuren hinterlassen hatte, die Menschen sind stark von Arbeitslosigkeit und zunehmender Armut betroffen. Diese Unsicherheit hat eine Art Vakuum eröffnet, die der ultrarechte Kandidat José Antonio Kast mit einer Angstrhetorik gefüllt hat.

Damit ist er offensichtlich auf fruchtbaren Boden gestoßen. Mit 27,91 Prozent hat er die erste Runde mit zwei Prozentpunkten vor Boric (25,83 Prozent) klar gewonnen.

Teile der Bevölkerung haben tatsächlich Angst vor der Zukunft: vor Veränderung, steigender Kriminalität, Migration. Zudem gibt es eine Verunsicherung durch die anhaltenden, zum Teil bewusst von den Sicherheitskräften blutig eskalierten Proteste und Repressionen. Die Rhetorik der harten Hand hat diese Verunsicherung instrumentalisiert und Kast innerhalb kürzester Zeit zu enormem Aufwind verholfen. Die traditionellen Parteien der Post-Pinochet-Ära, links wie rechts, konnten auf diese Situation überhaupt keine Antworten finden. Außerdem hatte die Bevölkerung ihnen ohnehin schon lange die Fähigkeit abgesprochen, sich als Regierung der fundamental transformierenden Gesellschaft angemessen zu repräsentieren. Jetzt stehen wir inmitten eines sehr polarisierten Wahlkampfs zwischen dem ultrarechten José Antonio Kast und dem demokratisch-linksprogressiven Gabriel Boric.

Nach der Wahl zum Verfassungskonvent hatten viele auf einen grundlegenden politischen Wandel und ein linke Mehrheit in der chilenischen Gesellschaft gehofft. Eine Fehleinschätzung?

Das muss in einer längerfristigen Perspektive analysiert werden. Der verfassungsgebende Prozess läuft bereits seit geraumer Zeit und damit eher relativ unabhängig vom zuletzt zugespitzten Präsidentschaftswahlkampf. Die verschärfte Rhetorik im Wahlkampf bezog sich auch eher auf Themen kurzfristigerer Tagespolitik - Wirtschaft, Arbeit, Kriminalität - und nicht auf die grundlegenden Fragen der langfristigen Transformation. Der verfassungsgebende Prozess läuft weiter, wurde medial aber nicht fokussiert und hatte vor allem nicht dieselbe Präsenz wie die eskalierende Wahlkampfrhetorik des ultrarechten Kandidaten. Allerdings implizieren die tagespolitischen, kurzfristigen Äußerungen und Positionierungen im Wahlkampf natürlich auch Vorstellungen und Visionen über die künftige Verfasstheit der Gesellschaft und des Landes - daher muss vor allem nach einem Wahlsieg von Kast sehr genau hingeschaut werden, was mit dem verfassunggebenden Prozess geschieht.

Die Wahlbeteiligung lag im ersten Wahlgang bei nur 47 Prozent. Bei den Protesten 2019 hieß es „Chile Despertó“ (Chile ist aufgewacht) - haben die Massenproteste und der anschließende Verfassungsprozess nicht zu einem Ende der Politikverdrossenheit geführt?

Seit Abschaffung der Wahlpflicht 2012 liegt die Wahlbeteiligung in Chile konstant unter 50 Prozent. Auch beim Plebiszit, das mit 78 Prozent für eine neue Verfassung ein tolles Ergebnis eingefahren hat, lag die Wahlbeteiligung bei nur 50,9 Prozent. Die Komplexität der juristischen Prozesse einer neuen Verfassung, gemeinsam mit den aktuellen Krisenherden, also der Pandemie, der Militarisierung des Konfliktes im Süden Chiles, aber auch der Armut, konnten das Vertrauen in die Politik nicht stärken. Etwa die Hälfte der Bevölkerung hat nach wie vor kein Vertrauen in das politische System, die politische Führung und die Parteien.

Ist trotzdem mit einer höheren Wahlbeteiligung im zweiten Wahlgang zu rechnen?

Es könnte sein - eben weil die Lage so angespannt ist und es auf eine Richtungswahl hinausläuft. Aber es sind oft ganz einfache Faktoren, die die Wahlbeteiligung beeinflussen. Im ersten Wahlgang hat das Wetter eine große Rolle gespielt, die Menschen mussten bis zu vier Stunden bei 30 Grad in der Schlange stehen. Das wurde während der Wahl im Fernsehen übertragen und hat viele Leute davon abgehalten zur Wahl zu gehen.

Wie wollen die beiden Kandidaten die Nichtwähler:innen für die Stichwahl mobilisieren? 

Gabriel Boric hat erkannt, dass sein bisheriger Wahlkampf und damit auch seine Wähler:innenschaft vor allem in der Metropolregion lag, vor allem in Santiago und Valparaiso. Er fährt die richtige Strategie, die Regionen stärker mit einzubeziehen. Er bereist derzeit das gesamte Land, um auch das Vertrauen der ländlichen Bevölkerung zu gewinnen und ein Zeichen für die notwendige Dezentralisierung des Landes zu setzen. José Antonio Kast versucht hingegen, durch eine Abschwächung seines ursprünglich ultrarechten Wahlprogramms, gemäßigtere rechte Stimmen und die des drittplatzierten Antipolitikers Parisi zu erreichen.

Versucht Boric andererseits auch, das Thema Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung zu besetzen und so auch Wähler:innen außerhalb seiner Stammklientel für sich zu gewinnen?

Ja, absolut. Er hat sich nach dem ersten Wahlkampf aus der Rolle des Studierendenanführers gelöst und nimmt jetzt die Themen, die die Bevölkerung wirklich beschäftigen - Kriminalität, Sicherheit, Drogenhandel - mit auf seine Agenda.

In der deutschen Presse wird Boric zum Teil als „linksradikaler“ Gegenkandidat zu Kast gehandelt…

Tatsächlich geht es bei dieser Wahl eher um eine Entscheidung zwischen demokratisch-linksprogressiv und autoritär-ultrarechts. Von einem ultralinken Boric kann gewiss nicht gesprochen werden. Trotzdem versammeln sich jetzt natürlich auch die Linken hinter ihm, denn es geht um den Schutz der Demokratie und dabei werden ihn alle unterstützen.

Immer wieder ist von Polarisierung die Rede - wie ist die Stimmung kurz vor der Stichwahl?

Die Stimmung ist sehr angespannt, es herrscht große Nervosität - alles zwischen Angst- und Hoffnungsrhetorik. Es geht am 19. Dezember ja um nicht weniger als um eine im bisherigen, demokratischen Chile in dieser Form einmalige Richtungswahl: zwischen einer pro-demokratischen, progressiven Regierung, die Themen wie Klimawandel, aber auch soziale Gerechtigkeit und die Zukunftsfähigkeit des Landes ernst nimmt, und dem ultrarechten Kandidaten, der mit radikalem, wirklich gefährlichem Gedankengut, wie der Abschaffung des Frauenwahlrechts, dem Austritt aus den Vereinten Nationen und einer Schließung des Nationalen Instituts für Menschenrechte, an das weltweite Phänomen der neuen Rechten anknüpft, Rhetorik und Mechanismen von Bolsonaro und Trump übernimmt. Kast stellt die Erfolge der demokratischen Transformationsbewegung nicht nur in Frage, er negiert sie. Es geht bei dieser Wahl also darum, den angestoßenen Prozess entweder zu unterstützen, oder - wie Kast es schon angekündigt hat - zu blockieren.

Was (oder wer) wird bei der Stichwahl am 19. Dezember den Ausschlag geben?

Es wird sehr darauf ankommen, wie sich die Anhänger:innen des drittplatzierten Franco Parisi (12,81 Prozent) entscheiden. Er hat seinen Wahlkampf online aus den USA geführt, war in der ganzen Zeit nicht einmal in Chile - weil hier ein Haftbefehl wegen nicht geleisteter Unterhaltszahlungen für sein Kinder gegen ihn vorliegt. Der überwiegende Teil seiner Wähler:innen sind junge Leute, die das politische System ablehnen. Als Antipolitiker führt er eine Antirhetorik gegen das politische Establishment und geht viel auf Wirtschaftsfragen ein. Es wird natürlich vermutet, dass Kast diese Themen mehr aufgreift als Boric, aber ich denke, es wird stark darauf ankommen, wie beide Kandidaten diese Klientel ansprechen.

Haben sich die anderen ausgeschiedenen Kandidaten positioniert und dazu aufgerufen, in der Stichwahl für den einen oder anderen zu stimmen?

Der viertplatzierte Sebastian Sichel (12,79 Prozent) von der Mitte-Rechts-Partei UDI hat seine Unterstützung für Kast angedeutet, diese aber an einen Neun-Punkte-Plan demokratischer Bedingungen geknüpft - davon hat Kast jedoch bisher kaum etwas akzeptiert. Boric wird unterstützt durch Yasna Provoste (11,61 Prozent) von der Christdemokratischen Partei und Marco Enriques-Ominami (7,61 Prozent) von der Progressiven Partei. Trotz dieser Unterstützungsbekundungen ist das Rennen außerordentlich ergebnisoffen. Die letzten Umfragen sehen zwar Boric mit 5 Prozentpunkten vor Kast, aber entscheidend werden jetzt die letzten Tage vor der Wahl sein - jeder noch so kleine Fehler kann den Ausschlag für den Gegner geben.